Interviews

Wie durch ein Leben voller Gefahren navigieren

Vergangene Woche war die amerikanische Autorin Regina Porter auf Deutschlandbesuch. Gerade ist ihr stürmischer Debütroman »Die Reisenden«, übersetzt von Tanja Handels, erschienen. Nicht weniger stürmisch ergeht es der Autorin und ihrer Lektorin Teresa Pütz auf ihrem Weg durch die deutsche Provinz – ein Gespräch zwischen Buchpremiere, Sturmtief Sabine und den Surpremes.

Pütz: Jetzt stecken wir hier in Köln fest, kein Zug fährt und du denkst vermutlich, das bisschen Sturm.

Porter (lacht): Oh, das hier ist wirklich nicht zu unterschätzen, gestern sind wir nach der Buchpremiere im Literaturhaus gut durchgepustet worden. Wie toll, dass so viele Zuhörer sich davon nicht abschrecken ließen und trotzdem kamen. Aber tatsächlich bin ich stärkeres gewöhnt. Ich habe in Iowa am Writers Workshop Creative Writing studiert. Da gab es ständig Hurrikans. Einmal, ich erinnere mich noch sehr gut, saß ich in einem Seminar über die Interpretation der Bibel als literarischen Text, als es Alarm schlug. Wir suchten gemeinsam den Schutzbunker auf, wo der Professor kurzerhand den Unterricht fortführte. Stell dir vor, du liest aus der Bibel und über dir tönt es, als ginge die Welt unter, es herrschte eine apokalyptische Stimmung (lacht wieder).

Pütz: Apropos vom Winde verweht, du bist in Savannah, Georgia aufgewachsen. So wie auch Flannery O’Connor, die ebenfalls in Iowa studierte. Wie kann man sich deine Kindheit vorstellen?

Porter: Oh, ich hatte eine großartige Kindheit. Das weiß ich heute in der Rückschau erst richtig zu würdigen. All die vielen Besucher, die bei uns ein- und ausgingen – Familienangehörige, Nachbarn, Freunde. Viele von ihnen waren großartige Geschichtenerzähler. So saß ich als Kind auf der Veranda, schlürfte Eistee und lauschte ihren Erzählungen. Sie machten mich neugierig für die Geschichten, die wir mit uns tragen, von einer Generation zur nächsten, von einem Ort zum anderen. Welche sind es, die wir von uns erzählen – oder nicht? Das faszinierte mich. 

Pütz: Eine andere Faszination gilt dem Theater. Als Bühnenautorin hast du bereits mehrere Preise und Stipendien erhalten.

Porter: Ich liebte schon immer das Drama, angefangen bei Shakespeare. Ich denke, Menschen werden immer Shakespeare lesen, weil er universell und zeitlos ist. Und Tom Stoppard natürlich.

Pütz: Hat er nicht das Drehbuch zu Shakespeare in Love geschrieben? (Räuspert sich) Ein kurzer Einwurf aus der Populärkultur.

Porter (schmunzelt): Auch, aber sein eigentliches Meisterwerk ist Rosenkranz und Güldenstern. Damals als Studentin hatte ich kein Geld, mir eine Aufführung anzuschauen, sah stattdessen den Film, der hatte erheblich Eindruck auf mich gemacht. Erst viel später sah ich dann das Bühnenstück, das noch viel imposanter ist. Da hast du zwei Nebenfiguren aus Shakespeares Hamlet, die den Auftrag haben, den dem Wahnsinn verfallenden Prinzen aufzuheitern. Und sie stolpern dabei so unbeholfen durch die Geschichte, das ist herrlich subversiv und komisch.

Pütz: Dieses Bühnenstück spielt ja eine nicht unwesentliche Rolle in deinem Roman.

Porter: Es hilft dem traumatisierten Vietnamveteran Eddie zurück ins Leben zu finden, ja. Und es beeinflusste mich auch, wie ich mit meinen anderen Figuren umging, mit diesen beiden Familien mit all ihren Verzweigungen – die weißen Vincents aus Maine und die afroamerikanischen Christies aus Georgia. 

Pütz: Das ist ziemlich viel Personal, dass du dort verhandelst. 34 Figuren, deren Wege und Geschichten sich kreuzen, wir springen zwischen sechs Jahrzehnten vor und zurück, von Martin Luther King zu Obama, von Berlin nach New York. Ein unglaubliches farbenprächtiges Zeitpanorama. Hast du da manchmal selbst den Überblick verloren, oder wusstest du schon von Anfang an, auf welche Reise du deine Figuren schickst?

Porter: Keineswegs, ich hatte vielmehr oft das Gefühl, meine Figuren nehmen mich mit auf Reisen. Die Musik hat mir geholfen, mich in die Zeit einzufinden. Ich hörte The Doors, als ich über Vietnam schrieb. The Surpremes bei Agnes und Eloise. (summt leise Lovechild)

Pütz: Haben dir auch literarische Vorbilder geholfen?

Porter: Absolut. Ich bin mit Toni Morrisons Büchern aufgewachsen. Und ich liebe Ann Petry. Die Straße war der erste Roman aus afroamerikanischer Feder, der eine Million Dollar einspielte! Es ist, denke ich, heutzutage unpopulär zu sagen, doch ich scheue mich nicht: das Dialogeschreiben habe ich von Hemingway gelernt. Und was die Form angeht, ist Jennifer Egans Der größere Teil der Welt ein großes Vorbild. Was für ein ambitionierter Roman, welch Experimentierfreude.

Pütz: Und reale Vorbilder, für Agnes und Eloise beispielsweise, die ja wirklich starke Frauenfiguren sind?

Porter: Ich bin mit starken Frauen aufgewachsen, meine Mutter war eine starke Frau. Vielleicht steckt etwas von ihr in ihnen. Auch sonst habe ich mich hier und da den Geschichten bedient, die ich als Kind hörte, aber deren Tragweite ich damals noch gar nicht verstand. Mein Onkel, er war Möbelpacker, er sagte immer: Maine, das ist ein kalter Ort. Da hat man mich fast verhungern lassen. Erst viel später fragte ich ihn, was er damit meinte. Das war noch vor dem Civil Rights Act. Man hat ihn nicht bedient. Einmal erbarmte sich eine Kellnerin und brachte ihnen heimlich essen. Oft schliefen sie im Umzugswagen, weil kein Motel sie beherbergen wollte.

Pütz: The Green Book.

Porter: Den damaligen Reiseführer für Afroamerikaner hatten sie tatsächlich immer dabei. Natürlich wusste ich davon, dennoch war ich geschockt von der Unmittelbarkeit, als mein Onkel davon erzählte. Oder meine Mutter sprach immer über zwei Frauen, die in der gleichen Nachbarschaft lebten und, wie sie es nannte, sich häufig »gegenseitig besuchten«. Beide waren verheiratet und hatten Kinder. Ich begriff erst später, wie sie das meinte. Mama, das waren Lesben gewesen? Um Gottes Willen, rief sie dann aus, damals hätte man sie dafür gelyncht.

Pütz: Schicktest du deshalb deine Figur Eloise Delaney nach Berlin, Friedrichshain, weil sie nur dort ihre Homosexualität ausleben konnte? Sie ist ja meine Lieblingsfigur.

Porter: Meine auch, auch weil ich Berlin so sehr liebe. Ich würde gerne mehr Zeit dort verbringen. Zuerst einmal lernte ich Eloise aber das Fliegen. Denn nur in der Luft konnte sie richtig frei sein.

Pütz: Wie ihr Vorbild Bessie Coleman.

Porter: Die erste afroamerikanische Frau, die den Pilotenschein machte. Und das war kein leichtes Unterfangen, sie war eigentlich Maniküristin in Chicago gewesen. Ihr Bruder, der im Ersten Weltkrieg gedient hatte, triezte sie ständig damit, dass keine schwarze Frau jemals fliegen lernen würde. Sie fand tatsächlich keinen Lehrer in den USA, aber statt aufzugeben, lernte sie Französisch und ging nach Frankreich. Kam mit Lizenz und aufregenden Stunts wieder. Und dann verunglückte sie tatsächlich mit nur 34 Jahren bei einem Flugzeugabsturz. Was für ein Leben!

Pütz: Ich habe erst kürzlich ihren Nachruf in der New York Times gelesen (In der Rubrik Overlooked ehrt die Zeitung ehemalige Persönlichkeiten, deren Leben und Tod nicht gewürdigt worden war.) Ich sehe, das Reisen hat große Bedeutung für dich und deinen Roman.

Porter: Das Leben ist eine Reise. Dieser Roman ist eine Reise. Deshalb habe ich mich entschieden, ihn so zu erzählen. Nicht-linear. Das Leben ist nicht geordnet, es ist unübersichtlich, man versteht die Zusammenhänge immer erst im Nachhinein. 

Pütz: Man weiß nie, wem man begegnet, welche Abzweigung man als nächstes nimmt und wo man am Ende landet. Genau, wie in deinem Roman.

Porter: Und es gibt nicht nur eine einzige Art zu reisen. Du kannst mit den Händen in den Taschen reisen, währen du dich keinen Zentimeter fortbewegst. Du kannst in deine Kindheit zurückreisen. Und dann gibt es die tatsächlichen Reisen. Vor kurzem ist meine Mentorin gestorben, sie war eine afroamerikanische Schauspielerin, die in den sechziger Jahren politisch aktiv war. Damals sagte sie mir immer: Regina, du musst reisen! Das ist ein besonderes Erlebnis, vor allem für eine schwarze Frau. Doch du musst dich hüten, die Welt ist im Wandel, sie wird konservativer, verschlossener. 

Pütz: Das klingt, als ob sie Trump und Brexit vorhergesagt hat.

Porter: Jede Art von falsch verstandenem Nationalismus und Tribalismus. Aber ich glaube daran, dass diese Tendenzen in Wellen funktionieren, ich bin hoffnungsvoll.

Pütz (wirft ein): Deshalb hast du den Roman auch mit Obama enden lassen und nicht mit dem »very stable genius«?

Porter (nickt): Wäre ich nicht Roman- und Theaterautorin geworden, hätte ich vermutlich Anthropologie studiert. Ich liebe Jane Goodall. Wir Menschen können einiges von den Affen über uns erfahren.

Pütz: Wo wir gerade über diese gesellschaftlichen Tendenzen sprechen. Rassismus und Ungleichheit sind ja die großen Themen dieses Romans. Sie wiegen aber niemals schwer, fast wie beiläufig hast du sie eingefädelt, findest einen lakonischen Ton. Du zeigst, dass diese Dinge zum Leben gehören. Wie du beispielsweise James, den alten weißen Mann, über seine beiden Enkelkinder sprechen lässt (sein Sohn hat eine Afroamerikanerin geheiratet). Ihm fehlen die Worte, soll er sie »multiethnisch« nennen, »gemischtrassig«? Einmal muss er sich sagen lassen, dass »Mulatten« definitiv nicht das richtige Wort für sie ist.

Porter: »Sie sehen nicht aus wie ich«, sagt er. Ja, das ist Alltagsrassismus feinster Sorte. Wir müssen uns fragen, wo fängt Diskriminierung an? Und da muss jeder bei sich selbst anfangen. Auch ich. Heute ist das anders, aber als ich damals nach New York zog, war das wie eine Befreiung. Das mag komisch klingen, aber in Savannah war ich doch irgendwie immer von den Weißen abgeschirmt, jeder blieb für sich. In New York schlug mir dann diese Weltoffenheit entgegen. Menschen unterschiedlichster Nationalitäten und Hautfarben gingen aufeinander zu. Und ich ertappte mich dabei, wie ich dachte: Diese weiße Frau hat mich gerade angesprochen. Das darf man heute nicht einmal laut sagen. Aber ja, so war es.

Pütz: Du lebst heute in Brooklyn mit deinen beiden Töchtern, unterrichtest auch Creative Writing. Was lehrst du deine Studenten, was ist das wichtigste Gebot?

Porter: Dass sie Ihren Figuren mit Empathie begegnen, wenn sie sie durch ein Leben voller Gefahren navigieren. Auch meine Figuren sind ja nicht makellos, sie lieben und betrügen, nehme falsche Abzweigungen. Einige von ihnen tun schreckliche Dinge, doch das löst mich nicht von meiner Verantwortung, etwas Gutes in ihnen zu finden. Wir tragen die Verantwortung für unsere Monster wie für unsere Helden.

Pütz: Deine Figuren behalten auch immer ihren Sinn für Humor, selbst in Zeiten größer Traurigkeit. Und sie kommen aus allen Schichten und Klassen. Sie sind Figuren mitten aus dem Leben.

Porter (lacht): Ja, das war mir wirklich nicht bewusst. Als mein Roman in den USA herauskam und ich auf Lesereise war, kam ein Leser nach einer Veranstaltung auf mich zu und sagte: Endlich gibt es mal wieder einen Roman zu lesen, in dem die Leute arbeiten. Heute findet man ja keinen Roman mehr mit normalen Menschen wie du und ich.

Pütz (lacht): Ich finde, er hat da nicht ganz unrecht: »Die Reisenden - ein Roman für Menschen wie du und ich«, so hätten wir das einfach pitchen sollen.

Porter: Ich wollte wirklich ein Buch schreiben, das auch dem Supermarktangestellten um die Ecke gefallen könnte. Wie meine Figur Claudia, die Shakespeare-Forscherin, glaube ich, dass Literatur für jeden ist. Wir verlieren sonst etwas von uns selbst, die Bandbreite von Stimmen, die unsere Gesellschaft ausmacht. Wir betreten und verlassen diese Welt auf den unterschiedlichsten Wegen – und doch sind wir alle miteinander verbunden. Ein Leser, der dies versteht, wird dieses Buch schätzen. Zumindest wünsche ich mir das.

Regina Porter studierte am renommierten Iowa Writer’s Workshop und erhielt mehrere Schreibstipendien. Sie ist eine vielfach ausgezeichnete Theaterautorin, sie arbeitete u.a. mit Playwrights Horizons, New York Stage & Film und The Women’s Project zusammen. Ihre bisherigen Texte wurden in der Harvard Review veröffentlicht. Porter wurde in Savannah, im US-Bundesstaat Georgia, ...
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