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»Ununterbrochen schwelte da eine Art Wahnsinn im Hintergrund.«

Die amerikanische Autorin Kyra Wilder spricht darüber, wie die alltägliche Erfahrung des Mutterseins sie zu ihrem literarischen Debüt „Das brennende Haus“ inspirierte, und empfiehlt uns ihre Lieblingsbücher über Mütter.

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© © Robin Farquhar-Thomson

In Kyra Wilders Roman »Das brennende Haus« zieht eine junge Mutter mit ihrer Familie nach Genf. Im neuen Zuhause, die Stadt und die Sprache fremd, und mit den beiden kleinen Kindern tagsüber allein, isoliert sich die Frau immer mehr. Zwischen mütterlicher Fürsorge und Überforderung entgleitet ihr irgendwann die Realität – und sie sich selbst. Im Folgenden spricht die gebürtige Amerikanerin, die heute selbst in der Schweiz lebt, über den dringlichen Wunsch über ihre Erfahrungen als Mutter zu sprechen und wie daraus am Ende ein Roman wurde.

 

Dieses Buch entstand langsam aus den »Überresten«, die sich an den Rändern jener verzweifelten, leeren Stunden ansammeln, die die Tage der Menschen füllen, die sich um Neugeborene kümmern. Ich habe in einem sehr kurzen Zeitraum Kinder bekommen. Drei Babys, die ich nacheinander nach Hause brachte, fütterte, versuchte, sauber und glücklich zu halten. Ein andauernder Kreislauf, in dem ich aufhörte, Müsli oder Salat oder irgendetwas zu essen, was das Sitzen an einem Tisch erforderte. Ich fing an, Walnüsse zu essen, ganze Packungen davon, irgendwann einfach aus meinen Hosentaschen. Zu der Zeit erschien mir das völlig normal. 

Natürlich haben die meisten Mütter mit kleinen Kindern sehr ähnliche Geschichten zu erzählen. Wenn vielleicht auch nicht mit Walnüssen, schwelt fast ununterbrochen eine Art Wahnsinn im Hintergrund. Weil Muttersein, wie sich herausstellt, überhaupt nicht »normal« ist. Und Das brennende Haus begann, weil ich darüber sprechen wollte, mich damit beschäftigen musste. Dieser banalen, häuslichen, absolut täglichen Art von Wahnsinn, die entsteht, wenn man Kinder hat. 

Auch wollte ich über die durchaus komplizierte Art von Macht sprechen, die Mütter haben. Ich begann über eine Geschichte nachzudenken, die meine eigene Mutter gerne erzählte, als ich klein war. In der Geschichte falle ich hin und schürfe mir schlimm das Knie auf. Sie kommt zu mir gelaufen, hebt mich auf und sagt:  Mein Gott! Oh, ich bin so froh, dass du auf den Boden gefallen bist! Einige Kinder fallen in die Höhe! Und in dieser Geschichte weine ich nicht. Stattdessen schauen wir zusammen in den Himmel und sie sagt, fast feierlich, während sie mich fest in ihren Armen hält: Wer weiß, was mit diesen anderen Kindern passiert…

Diese Geschichte ist natürlich als Witz gedacht, und meine Mutter möchte, dass die Menschen lachen, wenn sie sie erzählt. Aber die Geschichte ist auch eine Geschichte, die etwas sehr Wichtiges deutlich macht: Dass sie mich so schnell und gekonnt ablenken konnte, dass ich keinen Schmerz verspürte. 

Und ich dachte an diese Geschichte, während ich Walnüsse aß und Babys wickelte. Und fragte mich, inwieweit eine Mutter für die Schmerzen ihrer Kinder verantwortlich ist. Denn in der Geschichte vom blutigen Knie ist sie für alles verantwortlich, nicht wahr? Wenn eine Mutter eine Geschichte erzählen kann, die den Schmerz lindert, ist sie dann nicht verantwortlich, jedes Mal, wenn sie es nicht tut? Ist sie nicht schuldig, jedes Mal, wenn sie faul ist und nur ein Pflaster auf die Wunde klebt und keine Geschichte oder ein Spiel erfindet, das so ablenkend und verlockend ist, dass sich die physische Realität ändert und das Kind in Sicherheit ist und tatsächlich überhaupt nicht verletzt wurde?

Ich dachte viel darüber nach, wäre aber niemals imstande gewesen, darüber zu schreiben, wenn ich nicht in die Schweiz gezogen wäre, wo es oft sehr ruhig ist, und wo ich niemanden kannte und ich oft sehr allein war. 

Ich war sehr dankbar, schreiben zu können. Ich empfand es befreiend. Ich empfand Freude dabei. Nun empfinde ich Freude, meine Geschichte zu teilen. Denn ich denke, sie sollte geteilt werden. Denn wenn du meiner Erfahrung nach Walnüsse aus Manteltaschen isst, ist es wahrscheinlich, dass die meisten der anderen Eltern im Park so ziemlich genau dasselbe tun.

Hier sind einige meiner liebsten Bücher über Mütter und Gewalt und Wut und Inneneinrichtung:

»Das Geheimnis der Lady Audley« von Mary Elizabeth Braddon 

Dieser viktorianische Krimi-Bestseller sorgte für Aufsehen, als er 1862 veröffentlicht wurde, nicht zuletzt, weil er in das aufkeimende Unbehagen des 19. Jahrhunderts um Frauen und Häuslichkeit eintaucht. Dieses Buch hat unvergessliche Charaktere, darunter einen unglücklichen Detektiv und eine schelmische Schurkin, und Gewalt, Wahnsinn und Mutterschaft haben den Leser sprichwörtlich im Würgegriff.

»East Lynne« von Ellen Wood

East Lynne wurde 1861 veröffentlicht und war eines der beliebtesten Bücher seiner Zeit. Lady Isabel, die schöne, aristokratische Heldin des Buches, gibt ihrem Zorn und ihrer Frustration nach und überlässt ihren Ehemann und ihre Kinder dem bösen Captain Levison. Nachdem ein Eisenbahnunfall sie schrecklich verletzt hat, kehrt sie heimlich nach Hause zurück, um ihren eigenen Kindern als geisterhafte Gouvernante zu dienen, unterstützt in ihrer Verkleidung durch eine berüchtigte blaue Brille. Dieser bizarre, äußerst fesselnde Roman verursachte unter Moralisten und Kritikern des 19. Jahrhunderts einigen Briefwechsel – deutete er doch an, dass eine Frau, eine Mutter, wütend und fehlerhaft sein konnte, und die lesende Öffentlichkeit sie vielleicht darum umso mehr dafür mochte.

»Frau im Dunkeln« von Elena Ferrante

Leda, eine geschiedene Mutter, deren erwachsene Kinder weggezogen sind, befindet sich allein im Urlaub in einer Küstenstadt. Wo sie Einsamkeit, vielleicht sogar Verlassenheit erwartet, entdeckt sie Erleichterung und eine längst vergessene Leichtigkeit in ihrer eigenen Haut. Aber ihre Faszination für eine andere Mutter, die sie am Strand sieht, beendet ihre neu entdeckte Ruhe und erinnert sie an die komplizierte Vergangenheit ihrer eigenen Familie. Es gibt keine Mütter und Töchter wie Ferrantes Mütter und Töchter, und es gibt niemanden, der Sätze schreiben kann, die so voller Wut und Liebe sind.

»All das zu verlieren« von Leïla Slimani

Unter dem Deckmantel ihres perfekten Pariser Lebens ist Adèle eine junge Frau, die mit Verlangen zu kämpfen hat. Das Gewicht der sozialen Erwartung, das Adèle ihr ganzes Leben lang beschnitten und kontrolliert hat, hat sie mit einem einzigen, verheerenden Ausweg zurückgelassen. Dies ist ein psychologisch überzeugendes Buch über Sexsucht, aber es ist auch ein Buch über das Gewicht der sozialen Erwartungen, die an Frauen und Mütter gestellt werden, und darüber, inwieweit dieses Gewicht die Fähigkeit besitzt, eine Frau bis auf die Knochen zu entkleiden.

»Das Gift« von Samanta Schweblin

Dies ist wirklich eines der furchterregendsten Bücher, die ich je gelesen habe. Amanda, die alleine mit ihrer Tochter Nina reist, kommt in einem kleinen Haus auf dem argentinischen Land an. Während ihres Aufenthalts im Haus trifft sie eine andere Mutter und ihren Sohn David. Aber David, sagt der Nachbar, ist nicht ihr richtiges Kind. Er ist ein Wechselbalg, ein Monster. Amanda glaubt dem Nachbarn nicht, doch als Leser wünscht man sich sofort, dass sie es tun würde. Der Originaltitel dieses Buches lautet Distancia de Rescate und bezieht sich auf die Entfernung, die Amanda schätzt, die sie sich von Nina jederzeit entfernen kann, um sie im Katastrophenfall noch retten zu können. Jeder Elternteil kennt die angstvolle Anziehungskraft dieser Distanz, die Art und Weise, wie sie verebbt und fließt, sich entspannt und uns dann plötzlich ohne Vorwarnung zurückzieht. 


 

Aus dem Englischen von Teresa Pütz.

Kyra Wilder weiß, worüber sie schreibt. Die Amerikanerin, Jahrgang 1984, zog selbst mit ihrer Familie in die Schweiz, wo sie bis heute lebt. Sie studierte zwar Englische Literatur an der San Francisco State University, schlug aber davor einen ganz anderen Karriereweg ein: Im Sterne-Restaurant »Quince« in San Francisco machte sie ...

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